Interview mit Tim Meyerjürgens (Member Executive Board / Chief Operating Officer, TenneT TSO GmbH)
2. Februar 2021
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Dr. Annette Nietfeld: Die Europäische Union hat im Dezember die klimapolitische Zielmarke mit 55 Prozent weniger CO² bis 2030 deutlich erhöht – welchen Einfluss hat das auf die Stromnetze?
Tim Meyerjürgens: Für Deutschlands Erneuerbaren-Ausbauziele bedeuten die neuen Klima-Ziele rund 35 bis 65 GW zusätzlich zum bereits geplanten Erneuerbaren-Zubau. Der Ausbau des Stromnetzes muss Schritt halten mit dem der Erneuerbaren. Wir haben uns die Auswirkungen auf den Netzausbau angeschaut und erwarten etwa bis zu 1.000 Kilometer zusätzliche neue Stromleitungen. Ich glaube, dass das zu schaffen ist. Wir werden unseren Teil beitragen und die Bundesregierung tatkräftig dabei unterstützen, diese Ziele zu erreichen.
Dr. Annette Nietfeld: Die EU-Kommission plant auch den verstärkten Ausbau der Offshore Windenergie– Was sind die Konsequenzen für das deutsche Übertragungsnetz?
Tim Meyerjürgens: Um die Klimaziele zu erreichen, werden wir enorme Mengen an erneuerbaren Energien zubauen müssen. Wie wichtig die Nordsee für unsere Stromversorgung ist, zeigen die Offshore-Ausbauziele der Bundesregierung. Sie liegen für 2030 aktuell bei 20 GW. Zum Vergleich: bis heute wurden von TenneT rund 7 GW in der deutschen Nordsee angeschlossen. Als Nordsee-Übertragungsnetzbetreiber werden wir mit ca. 17 GW den größten Teil dieser Kapazitäten in Deutschland bis 2030 anbinden. Dazu kommt noch das Offshore-Netz in den Niederlanden, wo wir inzwischen 1.4 GW Anschlusskapazität in Betrieb haben und bis 2030 9.6 GW realisiert haben werden. Allein bis 2030 werden wir in der Nordsee 20 Milliarden Euro investieren.
Bis 2035 wollen wir gemeinsam mit unseren Konsortialpartnern in der Nordsee ein erstes grenzüberschreitendes Windenergie-Verteilkreuz bauen, das mit 12 GW die Kapazität von zwölf Großkraftwerken hat. Über das Verteilkreuz sollen Dänemark, die Niederlande und Deutschland mit grünem Strom aus der Nordsee versorgt werden.
Dr. Annette Nietfeld: Viele erinnern sich noch an die Netzausbaureisen von Bundeswirtschaftsminister Altmaier – Wie steht es denn um die Erreichung der Netzausbauziele?
Tim Meyerjürgens: Bundeswirtschaftsminister Altmaier sollte mit seiner Zuversicht Recht behalten, denn der Netzausbau hat deutlich Fahrt aufgenommen. Wichtige Leitungen sind bereits in Betrieb gegangen. Allein im vergangenen Jahr hat TenneT drei wichtige Leitungen im Norden fertiggestellt und zudem sind wir mit NordLink, dem wichtigen Interkonnektor zum Austausch von grüner Energie mit Norwegen, in den Probebetrieb gestartet. Viele weitere Projekte sind in Bau. Nicht zu unterschätzen ist dabei der positive Einfluss, den die Unterstützung der Politik auf die Akzeptanz des Netzausbaus bei den Bürgern hat.
Dennoch liegt noch ein weiter Weg vor uns. Das Bundesbedarfsplangesetz wurde verabschiedet und bringt noch einige Kilometer an neuen Leitungen. Was wir brauchen, um diese Projekte zügig zu realisieren, sind klare, verlässliche und stabile Rahmenbedingungen bei den Genehmigungsverfahren und in der Regulierung. Konkret heißt das: Bereits laufende Projekte dürfen nicht durch Gesetzesanpassungen verändert werden. Und die Regulierung muss Stabilität für bereits getätigte Investitionen sicherstellen. Dann klappt es auch mit dem Netzausbau.
Dr. Annette Nietfeld: Was bedeutet der Einstieg in die Wasserstoffstoffwirtschaft für die Stromnetze?
Tim Meyerjürgens: Ein gut organisierter Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft kann helfen, die CO2-Emissionen zu günstigen Kosten zu reduzieren und Europas Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Paradoxerweise kann der Einstieg in Wasserstoff auch zum genauen Gegenteil führen: zu höheren Kosten, höheren CO2-Emissionen und weniger Wettbewerbsfähigkeit. Elektrolyseure zur Herstellung von Wasserstoff aus Elektrizität sind große Stromverbraucher: Die niederländische Regierung will bis 2030 Elektrolyseure mit einer Stromaufnahme von 3 bis 4 GW bauen, die deutsche Regierung bis 2030 Elektrolyseure mit einer Kapazität von 5 GW.
Wenn wir die Elektrolyseure mit Blick auf das ganze Stromsystem sinnvoll positionieren und betreiben, können sie das Stromsystem entlasten. Wenn nicht, können sie die Herausforderungen im Stromsystem verschärfen. Denn: Wie jede Stromleitung in einem Haus oder in einer Firma haben auch die großen Übertragungsnetze begrenzte Übertragungskapazitäten. Wenn wir die Elektrolyseure weit entfernt von den Erneuerbaren-Schwerpunkten errichten, werden sie sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland einen hohen zusätzlichen Stromtransportbedarf hauptsächlich in Nord-Süd-Richtung schaffen.
Mit anderen Worten: wir brauchen eine integrierte Systemplanung. Nur so können wir die wachsenden Mengen an erneuerbaren Energien in die Stromnetze und das Energiesystem integrieren und den Hochlauf einer grünen Wasserstoffwirtschaft schaffen. Die Strominfrastruktur ist und bleibt dabei das Rückgrat der Energiewende.
Dr. Annette Nietfeld: Welche weiteren Innovationen gibt es im Bereich der Stromnetze für das Energiesystem ab 2030?
Tim Meyerjürgens: Neben dem Ausbau der Transportinfrastruktur müssen wir auch mehr Flexibilitätsreserven erschließen und diese nutzbar machen, wie z. B. die kurzfristigen Speicherkapazitäten von kleinsten Anlagen der Stromverbraucher, die helfen können, das Stromnetz zu stabilisieren. Zum Beispiel arbeiten wir an der länderübergreifenden Blockchain-basierten Crowd Balancing Plattform Equigy. Die digitale Plattform eröffnet den Prosumern in Europa die Möglichkeit, die flexiblen Kapazitäten ihrer E-Autos, Wärmepumpen oder Heimbatteriespeicher unbürokratisch, einfach und sicher zu vermarkten. Damit trägt sie dazu bei, dass der Bedarf an Flexibilität in Europa auch in Zukunft gedeckt werden kann. Und das gewährleistet auf lange Sicht eine sichere Stromversorgung.
Dr. Annette Nietfeld: Welche Investitionen in der Energiewirtschaft müssen zur Realisierung der Energiewende am dringendsten getätigt werden?
Tim Meyerjürgens: Der Green Deal setzt Impulse für Investitionen und Wirtschaftswachstum. Analysen sprechen von mindestens 650 Milliarden Euro, die die europäische Energiebranche bis 2030 in grüne Stromproduktion investieren will. Dazu kommen noch die Milliardeninvestitionen in neue Flexibilitäten und vor allem in den Ausbau der Stromnetze. Wenn wir in eine leistungsfähige, transnationale Netzinfrastruktur investieren, schaffen wir eine wichtige Grundlage dafür, dass der tiefgreifende Strukturwandel, den gerade Industrie, Verkehrssektor und Energiewirtschaft in Europa durchlaufen, erfolgreich verläuft und der Wirtschaftsstandort Europa daraus gestärkt hervorgeht. TenneT hat in den vergangenen 10 Jahren 14 Mrd. € in den Netzausbau on- und offshore in Deutschland investiert. Letztes Jahr allein waren dies gut 1,9 Mrd. €. Für die nächste Dekade haben wir ein Investitionsportfolio von 40 bis 50 Milliarden Euro, davon rund 30 Milliarden Euro in Deutschland.
Aber der Erfolg der Energiewende bemisst sich breiter: Sie braucht das Triple-G-Rating: Grün, günstig und grenzüberschreitend. Dies sind die drei Werte, die das wahre Credibility-Rating der Energiewende ausmachen werden.