Interview mit Dr. Karsten Wildberger (COO Commercial, E.ON SE)
Dr. Annette Nietfeld: Mit dem innogy Deal hat E.ON seine Erneuerbaren Sparte abgegeben. Gleichzeitig sieht E.ON sich mehr denn ja als Treiber der Energiewende. Passt das zusammen?
Dr. Karsten Wildberger: Eindeutig, denn wir haben im Gegenzug unser Netz- und Endkundengeschäft deutlich ausgebaut und gestärkt. Und genau dort sehen wir als Energieunternehmen die Innovationspotenziale, Marktchancen und technologischen Herausforderungen der Energiewende. Die Netze sind die Grundlage für das Energiesystem. Und wir wollen die wachsende Menge an Grünstrom effizient verteilen, speichern und nutzbar machen. Wir wollen die Basis für eine grüne Elektrifizierung aller Lebensbereiche schaffen – vom Verkehr übers Heizen bis hin zu einer klimafreundlichen Industrie. Es gibt ja auch einen klaren Auftrag der Europäischen Union.
Dr. Annette Nietfeld: Sie spielen damit auf den Europäischen Green Deal an…!
Dr. Karsten Wildberger:…der Co2-Neutralität bis 2050 vorsieht, ganz genau. Wir sind auf dem Weg in die Null-Emissionen-Gesellschaft und haben bei der Umsetzung keine Zeit zu verlieren. Die Agora Energiewende rechnet bis 2030 allein für Deutschland mit 14 Millionen Elektrofahrzeugen und 6 Millionen Wärmepumpen, die ans Netz angeschlossen werden müssten, um die Klimaziele zu erreichen. Das setzt eine Modernisierung unserer bestehenden Energieinfrastruktur voraus. Gleichzeitig erleben wir vom Privathaushalt bis zur Industrie eine steigende Nachfrage nach nachhaltigen, dezentralen Kundenlösungen.
Dr. Annette Nietfeld: Bietet das auch neue Diversifizierungschancen im kompetitiven Retail Geschäft?
Dr. Karsten Wildberger: In der Tat. In unserer Branche hieß es lange: Strom- und Gasverträge verkaufen, kann eigentlich jeder. Aber inzwischen hängen daran ganz viele andere Fragen. Dabei geht es um Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette von der Beschaffung bis zum Endprodukt. Und mehr noch: Viele Kunden wollen inzwischen das ganze Paket einer klimaverträglichen Energieversorgung. Wir setzen daher immer stärker auf maßgeschneiderte Komplettpakete, die entsprechend des jeweiligen Kundenbedarfs auch Future Energy Home Lösungen beinhalten.
Dr. Annette Nietfeld: Maßgeschneidert klingt nach Werbesprech?
Dr. Karsten Wildberger: Als es noch kaum Diversifizierungsmöglichkeiten gab, wäre das in der Tat Werbesprech gewesen. Und in etwa so glaubwürdig, wie zu behaupten, dass E.ON Strom leistungsstärker sei als Strom der Konkurrenz. Heute aber reicht die Versorgung mit Strom und Gas sehr viel weiter. Sie umfasst auch Solarstrom, Energiespeicher, Ladelösungen oder Energieeffizienzmaßnahmen. Der vielzitierte Prosumer ist schließlich kein Hirngespinst. Viele Menschen vergleichen das Angebot ihrer potenziellen Energieversorger sehr genau, und sie wollen zumindest einen Teil ihres Stroms selbst erzeugen und speichern können. Sie wollen damit vielleicht auch ihr neues Elektroauto aufladen. Und ihnen geht es mehr denn je um Kostenkontrolle, etwa in Form der Verbrauchsdaten ihrer digitale Haushaltsgeräte auf dem Smartphone. Mit anderen Worten: Der ökologische Fußabdruck, die Energiekosten und das technologische Niveau des Wohnumfelds wird für viele Menschen immer zentraler. Und für gewerbliche Kunden, vor allem für große Industrien, gilt das erst Recht.
Dr. Annette Nietfeld: Die Wirtschaft steht, wie auch die Kommunen, vor dem Hintergrund immer ambitionierterer Klimaziele und entsprechender Vorgaben vor großen Herausforderungen…
Dr. Karsten Wildberger: Ja, mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ist ein klarer und ambitionierter Transformationspfad vorgegeben. Vollends sichtbar wird das Ergebnis heutiger Investitionstätigkeit erst in 15 bis 20 Jahren. Aber für Industrieunternehmen und auch kleinere Betriebe sind nachhaltige Energiekonzepte längst integrale Bestandteile des Geschäftsmodells. Dabei geht es nicht nur um das Erfüllen von Vorgaben und um Kostenersparnisse, es geht auch um die Re-Finanzierung. Es ist bezeichnend, wie schnell und konsequent der Kapitalmarkt den Faktor Nachhaltigkeit inzwischen eingepreist hat. Es gibt also viele gute Gründe, sich auf dem Weg zu einem nachhaltigen Geschäftsmodell beraten und betreuen zu lassen. Dieses Angebot machen wir unseren Kunden. Als „Enabler“ der Energiewende und Partner für klimafreundliche Technologien befähigen wir die Wirtschaft und genauso die Kommunen und einzelne Haushalte zur grünen Transformation.
Dr. Annette Nietfeld: Geben Sie uns Beispiele?
Dr. Karsten Wildberger: Ein aktuelles Beispiel ist das Audi-Werk im ungarischen Györ. Dort hat unsere ungarische Konzerntochter Anfang 2020 Europas größte Aufdach-PV-Anlage in Betrieb genommen. Stromerzeugung so lokal und nachhaltig wie eben möglich – genau darauf kommt es jetzt an. Idealerweise sind solche Lösungen eingebunden in einen Kreislauf der Nachhaltigkeit, so wie im schwedischen Högbytorp. Dort haben wir eine thermische Recyclinganlage errichtet. Aus etwas das niemand will – nämlich Müll – wird dort etwas, das jeder will: Grüne Energie. Solche nachhaltigen Stromerzeugungslösungen für unsere Auftraggeber sind mittlerweile ein wichtiger Bestandteil unseres Endkundengeschäfts.
Dr. Annette Nietfeld: Sie stellen Ihr Kundenbusiness also auf neue Beine?
Dr. Karsten Wildberger: Ja. Wir erweitern unser Vertriebsgeschäft und werden verstärkt zum Anbieter kundennaher Energieinfrastruktur. Mit solchen Lösungen helfen wir gerade industriellen Kunden, ihre Klimaziele zu erreichen. Und zugleich bauen wir an einem nachhaltigen Lebensumfeld. Etwa 80 Prozent der CO2-Emissionen entstehen in den großen urbanen Ballungsgebieten, wo die Mehrheit der Menschen lebt und arbeitet. Unser Geschäftsbereich City Energy Solutions setzt genau dort an – mit nachhaltigen Energiekonzepten für neue oder bestehende Quartiere, mit Lösungen zur besseren Nutzung von Abwärme aus U-Bahn-Schächten oder eben mit Konzepten zur sauberen Energiegewinnung aus recyceltem Müll. Unser Endkundengeschäft geht also weit über Commodity-Leistungen hinaus. Wie weit das Angebot reicht, entscheiden am Ende die Kunden und ihre Erwartungen.
Dr. Annette Nietfeld: Und bei europaweit über 50 Millionen Kunden lässt sich an diesen Erwartungen sicherlich auch ein allgemeiner Trend ablesen…
Dr. Karsten Wildberger: Ja, ein Trend in Richtung Nachhaltigkeit. In Deutschland verschiebt sich unser Vertriebsportfolio quasi parallel zum steigenden Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung in Richtung Grünstrom. In UK haben wir schon vollständig auf Grünstrom umgestellt und in den Niederlanden den Ökostromanbieter Vandebron übernommen. Unser Vertrieb wird also immer nachhaltiger. Zugleich werden wir digitaler und migrieren immer mehr Kundenverträge auf digitale Plattformen. Dabei geht es längst nicht nur um operative Exzellenz und Kostenführerschaft. Es geht auch hier um eine bessere Einbindung des Kunden in eine zunehmend nachhaltige und digitale Energiewelt. Der Kunde steht im Fokus. Bei all den Veränderungen auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft – das ist unsere Konstante!